Mental Health der Mitarbeitenden wird sich als einer der wichtigsten Faktoren für Erfolg und Zukunftsfähigkeit von Unternehmen der 2020er Jahre erweisen. Vielfalt und Nachhaltigkeit können einen starken positiven Einfluss auf die psychische Gesundheit haben.
Ana-Cristina Grohnert ist Vorsitzende der Charta der Vielfalt, Top-Managerin, Investorin, Mentorin und Autorin. Eins der jungen Unternehmen, in das sie als Mentorin und Investorin involviert ist, ist Dear Employee, eine Corporate Health Plattform, die Unternehmen unterstützt, gesunde und motivierende Arbeitsbedingungen für ihre Mitarbeitenden zu schaffen. Im Gespräch mit Dr. Amelie Wiedemann, Gründerin von Dear Employee, diskutiert sie den Zusammenhang zwischen Mental Health, Vielfalt und Nachhaltigkeit.
Ana: Amelie, wie seid ihr auf die Idee gekommen, Mental Health in den Fokus eures Geschäftsmodells zu stellen?
Dr. Amelie Wiedemann: Wir hatten den Eindruck, dass die psychische Belastung, die für viele Menschen von ihrer Arbeit ausgeht, ein wachsendes Problem darstellt. Und dass die meisten Unternehmen nicht über die notwendigen Tools verfügen, um dies frühzeitig zu erkennen und dem effektiv entgegenzuwirken.
Ana: Ja, wir erleben in den vergangenen Jahren verstärkt die gesellschaftlichen Auswirkungen einer Arbeitswelt, die sich zu wenig an den Bedürfnissen der Menschen orientiert oder sogar dagegenwirkt. Arbeit kann krank machen – nicht nur im Bergbau oder in den ausbeuterischen Zeiten des Frühkapitalismus. Heute stehen eher psychische Erkrankungen im Vordergrund. Laut Gesundheitsreport des BKK-Dachverbands von 2020 geht inzwischen jeder sechste Fehltag, genauer gesagt 16,8%, auf psychische Störungen zurück.
Amelie: Wir haben bei Dear Employee über ein das interaktives Dashboard WORKPLACE INSIGHTS Daten Erkenntnisse zu Gesundheit und Arbeitsbedingungen von rund 20.000 Beschäftigten aus knapp 200 Unternehmen ausgewertetveröffentlicht. Die Ergebnisse haben uns schockiertsind alarmierend: 14% der Befragten fühlen sich Burnout-gefährdet, jeder vierte Beschäftigte hat mindestens eine regelmäßige psychische Beschwerden wir wie Schlafprobleme, Schwierigkeiten beim Abschalten oder dauerhafte Anspannung.
Ana: Das ist natürlich gerade in Zeiten des Fachkräftemangels ein echtes Problem, wenn so große Teile der Belegschaft ausfallen oder nur eingeschränkt belastbar sind. Hier schlummert enorm viel verborgenes Kapital! Wenn Unternehmen es schaffen, ihren Mitarbeitenden in Punkto Mental Health unter die Arme zu greifen, können sie sehr viel Potenzial freilegen!
Amelie: Absolut. Deshalb haben wir über unser Dashboard WORKPLACE INSIGHTS auch genauer hingeschaut, was die Stressoren im Arbeitsumfeld und damit die Ursachen für die massiven Mental Health Probleme sind. Der HauptfaktorDer Faktor, den wir am häufigsten als Stressor in den Unternehmen vorfinden, ist die Arbeitsintensität, also ein zu hoher Zeitdruck. Ständige Arbeitsunterbrechungen und schlechte Planbarkeit deremotionale Arbeitsinhalte belasten ebenfalls viele Menschen psychisch. Auch fehlende Entwicklungschancen gehen zu Lasten der Arbeitgeber-Attraktivität und stellen eine Quelle für psychische Belastungen dar. Und es bewahrheitet sich leider auch wieder Sartres berühmte Aussage: „Die Hölle, das sind die anderen“: Herausfordernde Kontakte mit Dritten und geringe Wertschätzung sorgen ebenfalls für ein erhöhtes Stress-Level und reduzieren die Arbeitsgeberattraktivität.
Ana: Die Corona-Pandemie hat den Stress bei vielen Mitarbeitenden zusätzlich erhöht. Vor allem das Gefühl fehlender Zugehörigkeit hat stark zugenommen. Durch das Arbeiten im Home-Office fehlen zudem Möglichkeiten, sich mit anderen auseinanderzusetzen.
Amelie: Hier müssen die Unternehmen dringend entgegenwirken. Burnout-bedingte Arbeitsausfälle und ein negatives Arbeitgeber-Image können sich Firmen, die langfristig erfolgreich am Markt agieren wollen, nicht leisten.
Ana: Ich bin überzeugt, dass die Faktoren Vielfalt und Nachhaltigkeit eine entscheidende Rolle bei der Verbesserung der Mental Health Situation eines Unternehmens spielen können. Beide Bereiche werden vielfach noch primär als Image-Themen wahrgenommen, dabei bringen sie handfeste ökonomische Vorteile, nicht zuletzt bei den HR-Kennzahlen.
Amelie: Das stimmt, wir sehen das genauso. Hast du ein Beispiel dafür?
Ana: Ja, zahlreiche. Zum Beispiel sind vielfältig besetzte Teams nachweislich lebendiger, agiler und diskussionsfreudiger als weitgehend homogene Teams – das erhöht Spaß und Abwechslung bei der Arbeit und wirkt so der Monotonie entgegen. Durch ein Kennenlernen unterschiedlich sozialisierter Menschen steigen zudem die Toleranz für das Andersartige und auch die Wertschätzung. Und Wertschätzung ist ja ein massives Thema für Mental Health, wie eure Erhebung gezeigt hat.
Vielfalt und Toleranz lassen eine Kultur des Vertrauens entstehen. Vertrauen ist ein wesentlicher Faktor, um Stress abzubauen. Zahlreiche Studien belegen, dass eine Kultur mit hohem gegenseitigem Vertrauen den Stress massiv reduziert, die Mitarbeiterproduktivität steigert und zu mehr Engagement der Belegschaft führt. Mitarbeitende in solchen Unternehmensumfeld fühlen sich zudem viel enger mit ihrem Arbeitgeber verbunden.
Amelie: Das kann ich bestätigen. Microagressions, also unterbewusste verbale Angriffe auf Einzelne aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Minderheit, wiederum haben nachweislich negative Effekte auf die Psyche, die Unternehmenskultur und die Arbeitsproduktivität. Und wie ist es mit der Nachhaltigkeit?
Ana: Die Tätigkeit für ein nachhaltig agierendes Unternehmen gibt den Mitarbeitenden das Gefühl, etwas Sinnstiftendes zu tun. Hier sind wir beim Thema „Purpose“. Die im Herbst 2020 erschienene Studie „Purpose. Die große Unbekannte“ von Kienbaum und Human Unlimited zeigt die Bedeutung, die ein klar formulierter, starker Purpose für Unternehmen hat. 93% der rund 1.300 befragten Mitarbeiterenden und Führungskräfte erachten es als wichtig, dass Unternehmen für sich eine Art Existenzberechtigung definieren. Drei Viertel der befragten Führungskräfte beobachteten nach der Einführung eines neuen Purpose im Unternehmen eine höhere Mitarbeiterzufriedenheit. Etwa zwei Drittel verweisen auf positive Veränderungen bei der Mitarbeiterbindung und Arbeitgeberattraktivität.
Amelie: Bei DearEmployee erfassen wir die Bedeutsamkeit der eigenen Tätigkeit für das Unternehmen beziehungsweise die Gesellschaft, also ein etwas breiteres Konstrukt von Purpose. Und auch hier sehen wir, dass dies statistisch nachweisbare Einflussfaktoren für die psychische Gesundheit, also die Leistungsfähigkeit, aber auch Motivation und Bindung an ein Unternehmen ist – was auf die Leistungsbereitschaft der Mitarbeitenden. Dann haben Vielfalt und Nachhaltigkeit also haben in vielerlei Hinsicht einen signifikanten starken Einfluss auf Fluktuation, Motivation wesentliche Faktoren des Fachkräftemangelsund Leistungsbereitschaft der Mitarbeitenden.
Ana: Ganz genau: Sie verbessern die HR-Kennzahlen deutlich und tragen so zum Erfolg und zur Zukunftsfähigkeit des Unternehmens bei. Unternehmen müssen die mentale Gesundheit ihrer Mitarbeitenden endlich ernst nehmen!
Im Jahr 2005 hat die Gesellschaft für deutsche Sprache den Begriff „Humankapital“ zum Unwort des Jahres erklärt. Das mag verständlich sein, wenn man damit Mitarbeiter:innen nur als Kostenfaktor begreift. Tatsächlich sind Menschen aber ein höchstwichtiger Vermögenswert für ein Unternehmen, ein Potenzial oder ein Wirtschaftsgut – vergleichbar mit hochwertigen anderen „Assets“, die ein Unternehmen für sich auflistet. Hier sind wir wieder beim Thema „verborgenes Kapital“: In den vielen hochqualifizierten, aber demotivierten Mitarbeitenden in deutschen Unternehmen schlummern unglaubliche Möglichkeiten. Es ist mir ein Rätsel, warum dies vielfach nicht erkannt wird!
Amelie: Absolut! Und genau um mehr Sichtbarkeit und Verständnis für diese wichtigen Zusammenhänge zwischen Arbeitsbedingungen und Produktivitätsfaktoren zu erzeugen, haben wir das interaktive Dashboard WORKPLACE INSIGHTS im Rahmen unserer „Speak up for Mental Health“-Kampagne ins Leben gerufen.
Ana: Woher kommen die Daten genau?
Amelie: Mit Dear Employee wollen wir etwa 250 Unternehmen dabei unterstützen, die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter:innen besser im Blick zu behalten – auch in der Distanzarbeit. Über unsere Plattform können die Unternehmen wissenschaftlich, einfach und digital psychische Belastungen am Arbeitsplatz messen, KI-basiert Handlungsempfehlungen erhalten und konkrete Services für die Gesundheitsförderung und Organisationsentwicklung auf dem angeschlossenen B2B-Marktplatz buchen. Die Datenbasis aus den Befragungen nutzen wir auch, um Insights zur mentalen Gesundheit von Beschäftigten für die Gesellschaft zu erzeugen und bereitzustellen.
Ana: Ja, es gibt heute fantastische Möglichkeiten, um Mitarbeitenden hinsichtlich Mental Health zu unterstützen. Es ist jetzt Zeit, vom Wissen ins Handeln zu kommen und Führungskräften Lösungen anzubieten, wie sie ihre Teams motivieren und mitnehmen können. Nur wenn sich alle im Team wertgeschätzt und wahrgenommen fühlen, entfalten sie ihr volles Potenzial.
Die Kampagne „Speak Up for Mental Health“ wird unterstützt von führenden HR, IT und Health Vordenker:innen, wie Dr. Christine Abel, Dr. Elke Eller, Ana Cristina Grohnert, Dr. Thomas Kleespies, Dr. Thomas Noth und Stefan Ries.
Hier geht es zum interaktiven Dashboard “Workplace Insights”: