Interview: Wie Geschlechtsstereotype die Wahrnehmung beeinflussen

Im Gespräch sind Prof. Dr. Andrea Bührmann, Direktorin des Instituts für Diversitätsforschung und Vizepräsidentin für Studium, Lehre und Chancengleichheit der Georg-August-Universität Göttingen, und Charlott Hoebel von DearEmployee, die Workplace Mental Health Platform.

Nach dem Studium der Soziologie, Philosophie und Politikwissenschaften habilitierte Dr. Andrea Bührmann 2004 im Fach Allgemeine Soziologie. Seit 2013 ist Prof. Dr. Bührmann Direktorin des neu gegründeten Instituts für Diversitätsforschung. Im Sommersemester 2014 forschte sie als Research fellow an der University of California/Berkeley. Seit dem 1. Oktober 2015 ist sie Vizepräsidentin für Studium, Lehre und Chancengleichheit an der Georg-August-Universität Göttingen. Im Rahmen ihres Forschungsschwerpunktes zur Soziologie der Diversität und der Geschlechterverhältnisse hat Bührmann ein umfangreiches Forschungsprojekt zur medialen Darstellung von erfolgreichen Frauen in Führungspositionen durchgeführt.

 

Prof. Dr. Bührmann vielen Dank, dass Sie sich heute die Zeit genommen haben. Sie haben sich intensiv mit Geschlechterfragen im Hinblick auf Unternehmensgründungen, Führungsverhalten sowie mit dem Thema Chancengleichheit von Männern und Frauen in Führungspositionen befasst. Was ist Ihre persönliche Bilanz nach Jahren in diesem Feld?

Prof. Dr. Bührmann: Ich denke, dass in den letzten Jahren sehr gute und interessante Studien vorgelegt worden sind und sehr viel darüber geredet worden ist und wird, dass es wichtig ist, dass mehr Frauen Unternehmen gründen und mehr Frauen in Führungspositionen gelangen. Zwei Gründe werden dafür genannt. Zum einen geht man davon aus, dass mehr Diversität das Innovationspotenzial von Top-Teams steigert. Zum anderen geht es um ein Mehr an Teilhabe. Aber über diese rhetorische Offensive und entsprechenden Willensbekundungen vieler Akteur*innen hinaus ist konkret – jedenfalls in Deutschland – wenig passiert. Und bestimmte Weichen, wie etwa die Abschaffungen oder mindestens Reformierung des Ehegattensplittings sind nicht wirklich angegangen worden. So werden die hierarchischen Geschlechterverhältnisse zementiert.

 

Das Thema Diversität in Teamzusammenstellungen zu fördern ist nicht neu. Ich würde sogar behaupten, dass viele Artikel zur Gleichstellung, Überschriften tragen, die das Wort Diversität beinhalten. Wie beurteilen Sie diese Argumentationsvariationen hinsichtlich einem höheren Innovationspotenzial, einer besseren Team Performance etc. vor dem Hintergrund Ihrer Forschung?

Prof. Dr. Bührmann: In der Tat wird diese Argumentation oft angesprochen. Ich denke indes, dass es auch richtig ist, dass Frauen schlicht gleichberechtigt an zentralen Entscheidungen in allen gesellschaftlichen Bereichen beteiligt sein sollten.

 

Sie sind unter anderem Herausgeberin des Buches „Hybride Erwerbsformen Digitalisierung, Diversität und sozialpolitische Gestaltungsoptionen.“ Was sind Ihrer Meinung nach, positive Auswirkungen der digitalen Transformation in Hinblick auf Gleichberechtigung?

Prof. Dr. Bührmann: Die positiven Auswirkungen sind sicherlich, dass Menschen flexibler arbeiten können und so ihre Care-Verpflichtungen aber auch Ehrenämter besser gerecht werden können. Dies eröffnet Chancen für alle Geschlechter.

 

In einer Ihrer Studien haben Sie sich mit Frauen in Top-Management-Teams auseinandergesetzt und dafür zahlreiche biografische Porträts von erfolgreichen Männern und Frauen in Top-Führungspositionen analysiert. Was sind die zentralen Ergebnisse Ihrer Studie?

Prof. Dr. Bührmann: Männer und Frauen werden oftmals mit geschlechtstypisierenden Stereotypen konfrontiert. Erfolgreiche Frauen erfüllen diese nicht – schon weil sie ja durchsetzungsfähig sind. Denn sie sind erfolgreich und haben nicht darauf gewartet gefragt zu werden. Männer hingegen erfüllen gerade als erfolgreiche “Karrieristen” die entsprechenden Rollenbilder. Denn noch immer gelten Macht und Erfolg als männlich, nur weil viele Männer erfolgreich und mächtig sind. Hier werden dann aber Eigenschaften mit Identitäten verwechselt.

 

Worin gleichen sich denn weibliche und männliche Führungskräfte am deutlichsten?

Prof. Dr. Bührmann: Am deutlichsten gleichen sich die Darstellungen der Top-Managerinnen und ihrer männlichen Kollegen darin, dass sie in einer ähnlichen Haushaltskonstellation leben. In solchen Haushalten kümmert sich eine Person primär um den Haushalt und falls vorhanden um die Kinder bzw. pflegt Angehörige, und die andere Person konzentriert sich voll und ganz auf die berufliche Karriere.

 

Welche stereotypisierenden Wahrnehmungsmuster werden bei der Beurteilung von Männern und Frauen im beruflichen Kontext am häufigsten verwendet?

Prof. Dr. Bührmann: Im Hinblick auf Manager und Managerinnen werden in den Medien oft Stereotype über eine ‚eigentliche‘ Natur der Geschlechter aufgegriffen. Sie haben eine lange Tradition: Seit dem Beginn der Aufklärung wurden die fundamentalen Unterschiede zwischen Frauen und Männern konstruiert. Mit dieser Unterscheidung begründete man wiederum eine ‚natürliche‘ Arbeitsteilung, nach der die Frau in der Familie als Hausfrau, Ehefrau und Mutter und der Mann als Ernährer ‚seiner‘ Familie in der Öffentlichkeit zu wirken hatten. Diese Arbeitsteilung und die damit verbundene hierarchische Ordnung der Geschlechter ist spätestens mit dem Beginn der neuen Frauenbewegung infrage gestellt und vor allem seit den 1990er Jahren auch im Mainstream der Geistes- und Sozialwissenschaften intensiv hinterfragt worden.

Die Analyse der von uns untersuchten Portraits von Top-Managerinnen zeigt, dass in der Berichterstattung neben einer detaillierten Beschreibung des Kleidungsstils und der äußeren Erscheinung noch eine andere Unterscheidung entworfen wird. Es wird nämlich zwischen ‚zu‘ männlichen und ‚sehr‘ weiblichen Frauen unterschieden. Wir sprechen hier von ‘Businessfrauen‘ und ‚Powerfrauen‘. Eine typische Business-Frau verkörpert demnach etwa eine Frau, die einen ‚Kurzhaarschnitt‘ trägt, eine eher ‚raue Stimme‘ hat, ‚forsch und bestimmt‘ wirkt und als ‚kämpferische‘ Frau gilt. Als Powerfrau werden dagegen Frauen vorgestellt, die zwar selbstbewusst, souverän, präsent wirken, aber äußerlich sehr weiblich wirken: Sie tragen ein körperbetontes Outfit, üppigen Schmuck, oft blonde, mindestens aber lange Haare und werden so – wie wir in unserer Analysen fanden – als ‚unbeschreiblich weiblich‘ beschrieben.

In diesem Kontext wird auch oft ein weiblicher Führungsstil unterstellt, der – so zeigen einschlägige Studien – jedoch nicht existiert. Was existiert, sind unterschiedliche Führungsstile, die mal mehr oder mal weniger in bestimmten Situationen und Positionen zu passen scheinen. Die Vorstellung eines weiblichen Führungsstils, der dann oft als weniger aggressiv, weniger dominant und weniger kompetitiv beschrieben wird, geht darauf zurück, dass viele Menschen glauben, Frauen seien ‚so‘ und würden deshalb auch als Führungskräfte ‚so‘ handeln. Diese Vorstellung hat Nahrung dadurch erhalten, dass man in Studien zu geschlechtsspezifischen Führungsstilen oft männliche Führungskräfte in Top-Führungspositionen und weibliche Führungskräfte aus dem mittleren Management befragt hat. Und hier unterscheiden sich die Führungsstile sicherlich erheblich, aber das hat weniger mit dem Geschlecht als mit der Position in der unternehmerischen Organisation zu tun.

 

Kürzlich bin ich auf einen Post auf LinkedIn gestoßen, in dem ein Mann in einer hohen Managementposition eines DAX-Unternehmens sich darüber gefreut hat in Teilzeit zu gehen. Die Befürworter*innen des Posts haben vermutlich nicht gesehen, dass dieser Mann schon 10 Jahre im Unternehmen arbeitet. Oder ist das wirklich so einfach? Ist Teilzeit jetzt für alle möglich?

Prof. Dr. Bührmann: Im Prinzip ja, es gibt seit Jahren entsprechende Gesetze zum Führen in Teilzeit.

 

Ist es Gang und Gäbe, dass Frauen außerhalb des Unternehmens prinzipiell die Möglichkeit haben, eine neue Stelle als Führungskraft in Teilzeit zu erhalten?

Prof. Dr. Bührmann: Das hängt wohl – jedenfalls in Deutschland – von der Branche und der Position ab. In der Regel wird Teilzeit weniger von Arbeitgeber*innen begrüßt, je höher die jeweilige Position ist. Unterschiede bestehen wohl entsprechend der Branche. In erfolgreichen Start-Ups der It-Branche sind Teilzeitregelungen öfters zu finden als etwa in der Stahlbranche.

 

Wenn wir in Deutschland aktuell von Geschlechtergerechtigkeit sprechen, ist mein persönlicher Eindruck, dass oft die sozioökonomische Situation von Frauen nicht mitberücksichtigt wird. Nicht jeder kann von einer Teilzeitstelle leben. Was ist Ihre Meinung dazu?

Prof. Dr. Bührmann: Oft wird an dieser Stelle nicht zwischen gesetzliche Vorgabe und derer konkreten materielle Umsetzung unterschieden. Formal sind Frauen gleichberechtigt. Aber alle Statistiken sagen uns auch, dass die sozioökonomische Situation von Frauen schlechter ist als die der Männer. Das betrifft etwa das Einkommen, die soziale Absicherung im Krankheitsfalle, das Armutsrisiko usw..

 

Die Corona-Pandemie und der daraus resultierende Lockdown waren besonders für Mütter eine Herausforderung. Sie übernehmen immer noch ein Großteil der unbezahlten Care-Arbeit. Viele sagen, dass während Corona alt geglaubte Rollenbilder reaktiviert wurden. Wie ist hier Ihre Einschätzung?

Prof. Dr. Bührmann: Ich denke das stimmt und es ist wichtig, dagegen anzugehen

 

Welche Debatten in Unternehmen und in der Öffentlichkeit bräuchte es aus Ihrer Sicht, um den Prozess der Chancengleichheit weiter voran zu treiben?

Prof. Dr. Bührmann: Wir sollten mehr über Kompetenzen und Leistungen sprechen und zwar unabhängig von der sozialen Herkunft und dem Erfahrungsspektrum.

 

Und was können Unternehmen diesbezüglich tun? Was sind aus Ihrer Erfahrung heraus drei Maßnahmen, die Unternehmen umsetzen können, um Geschlechtergerechtigkeit zu fördern?

Prof. Dr. Bührmann: Sie sollten top-down eine zielgruppenübergreifende und zugleich zielgruppenspezifische Diversitätsstrategie implementieren, um dann für alle also auch für Frauen ein Mehr an Chancengleichheit herzustellen. Wichtig sind hier entsprechende flankierende Maßnahmen, wie die Etablierung einer inklusiven Unternehmenskultur, das betrifft Kernzeiten für Sitzungen oder Diversifizierung des Kantinenangebots, aber auch die Einrichtung von Anti-Bias Trainings. Besonders wichtig scheinen mir indes dann auch strukturierte diversitätssensible Rekrutierungsprozesse.

 

Wie bewerten Sie denn Maßnahmen wie Quoten, um Frauen in Führungspositionen zu stärken?

Prof. Dr. Bührmann: Solange sich durch freiwillige Maßnahmen nichts verändert, scheinen wir die Quote zu brauchen.

 

Dann hoffen wir, dass dies sich bald ändert. Vielen Dank für das spannende Gespräch.

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